C. Favre: Une frontière entre la guerre et la paix

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Titel
Une frontière entre la guerre et la paix. Les échanges au quotidien autour de l’arc jurassien (1937–1945)


Autor(en)
Favre, Christian
Erschienen
Neuchâtel 2010: Éditions Alphil
Anzahl Seiten
532 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Die Freiburger Dissertation zeigt, wieviel und mit welchem Geist in der Nach-Bergier-Ära die Geschichte der Schweiz der Jahre 1933–1945 noch bearbeitet werden kann. Aufschlussreiche Abklärungen sind in der Tat vor allem in der Regional- und Lokalgeschichte und in der nüchternen Alltagsgeschichte jenseits der national hochgefahrenen Fragestellungen möglich – und wünschbar. Christian Favre hat als Forschungsfeld die Grenzregionen des Jurabogens gewählt. Damit wird zugleich das in den letzten Jahren wichtiger gewordene Thema der Grenzkontakte oder der «transfrontiérité» angepeilt. Seine Recherchen zeigen, in welch komplexe Verhältnisse man sich da begibt, vor allem wenn es die Jahre 1937–1945 betrifft. Diese «Kontaktzone» ist wie manche andere geprägt von einer Gleichzeitigkeit der Abriegelungsbemühungen und Überwindungsversuche, von einer zum Teil sehr gegenläufigen Kombination von wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen, zudem von oft sehr asymmetrischen Verhältnissen diesund jenseits der Grenze und schliesslich unterschiedlichen Binnenregimes. Der «arc jurassien» bildet nur bedingt eine Einheit, wegen der kantonalen und departementalen Unterteilungen muss von Grenzregionen im Plural die Rede sein.

Das von Favre zusammengestellte Bild ist reich an signifikanten Details und bietet mit seiner klaren Struktur dennoch ein fassbares Ensemble. Es beruht auf breit angelegten und ebenfalls transnational ausgelegten Archivrecherchen. Auf schweizerischer Seite sind neben den Beständen der obersten Eben der Bundesverwaltung (Aussen- und Militärdepartement, Zollverwaltung etc.) insbesondere die Konsulatsakten von Besançon, Mulhouse und Dijon, aber auch kantonale Polizeiakten ausgewertet; auf französischer Seite spiegelbildlich auch die Bestände der Konsulate von Lausanne und Basel (ohne Genf?), dann auch Departementsakten Belfort und Doubs, Haute-Saône u.a. Selbstverständlich wurden auch Presseveröffentlichungen einbezogen und einige mündliche Befragungen durchgeführt.

Da Akten vor allem dann produziert werden, wenn es einen Regelungsbedarf gibt und wenn Konflikte gelöst werden müssen, ist der auch unter schwierigen Bedingungen «normal» laufende Grenzverkehr schwerer erfassbar als die ausserordentlichen Vorkommnisse. Es gelingt Favre dennoch, die Verhältnisse einigermassen zu erfassen, unter denen Schweizer Bauern ihre Felder jenseits der Grenze bearbeiteten und Uhrenfabrikanten Bestandteile an die benachbarte Region liefern konnten. Erstaunlich wäre, wenn der Schmuggel in dieser Zeit keine Rolle gespielt hätte; bemerkenswert ist aber das Ausmass des Schmuggels an dieser dreifach, vom Militär, vom Zoll und von der Polizei bewachten Grenze. Mehrheitlich in den Händen französischer Leute, die in schwierigeren Verhältnissen lebten als die Schweizer, entwickelte sich ein zum Teil sehr effizientes System von Hin- und Hertransporten (Lebensmittel aus Frankreich, Fertigwaren aus der Schweiz), manchmal waren auch Devisen und Briefe – und Flüchtlinge dabei.

Ein eigenes Thema bildet das Leben der beiden respektiven Kolonien der Grenzgebiete. Wenn es über die in der Schweiz lebenden Franzosen entschieden weniger zu sagen gibt als über die auf der französischen Seite lebenden Schweizer, liegt das nicht an einem einseitigen Interesse der in der Schweiz erarbeiteten Studie. Das Leben auf der französischen Seite ist eben weit dramatischeren Umständen ausgesetzt – mit Frankreichs Niederlage, der Besetzung, den Aktivitäten der Résistance, der Libération und dann der Epuration. In den Sommerwochen 1940 waren die am Akzent erkennbaren Deutschweizer zu Unrecht schnell dem Verdacht der Spionage ausgesetzt, nach dem August 1944 kam es – nicht nur zu Unrecht – zu einigen Abrechnungen mit Schweizern, die vom Besatzungsregime stark profitiert hatten. Während auf schweizerischer Seite stets das hohe Lied der gegenseitigen Freundschaft gesungen wurde, galt dieses positive Bild auf der französischen Seite nur im allgemeinen und verschlechterte sich das Bild der Schweiz mit der Nähe zur Schweiz.

Claude Hauser, der selbst zur Flüchtlingsproblematik dieser Region gearbeitet hat, würdigt im Vorwort völlig zu Recht diese «histoire totale de la frontière» als magistrales Werk im Geiste der Ecole des Annales. Die Arbeit erschliesst viele neue Felder und ermöglicht einen neuen Blick auf diese Region. Dazu gehören auch die Ausführungen zur Bedeutung der Schweizer Grenze für die Résistance. Darüber hinaus kann sie aber wichtige Präzisierung zur bereits stark bearbeiteten Flüchtlingsgeschichte vermitteln: zu den Reaktionen zunächst auf die erste Fluchtwelle der französischen Zivilbevölkerung im Juni 1940, dann auf die Grenzübertritte militärischer Einheiten im Juli 1940 und schliesslich, 1942, auf die Versuche der verfolgten Juden. Zur ersten Welle: General Guisan wollte überhaupt niemanden einlassen, der Bundesrat sah eine Aufnahme wenigstens von Frauen und Kindern vor, in der Ajoie wurden die Leute jedoch aufgenommen, bevor überhaupt eine Weisung des Bundes vorlag, im Kanton Waadt dagegen wurden gegen die Weisung aus Bern zunächst alle Flüchtlinge abgewiesen. Zur zweiten Welle: Da wissen wir bereits einiges zur Internierung der französisch- polnischen Verbände. Nicht zur Kenntnis genommen wurde bisher jedoch, dass rund 2000 Brigadisten der ehemaligen spanischen Republik, die seit 1939 in der französischen Nachbarschaft Arbeitsdienst geleistet hatten, rücksichtslos an die deutschen Stellen ausgeliefert wurden. In der dritten grossen Welle von 1942 wird auf der schweizerischen Seite ein billiger Opportunismus sichtbar. Mit der Rückweisung der jüdischen Flüchtlinge erwarb man sich eine entgegenkommende Behandlung der schweizerischen Grenzgänger (S. 183, 211). Ein führender Zollbeamter bemerkte, die Deutschen würden ein zwar strenges, aber auch verständnisvolles Regime führen. «Ceci provient certainement des bonnes relations que nous entretenons avec les organes frontières.» – Der Vf. entlässt seine Leser mit dem Anregung, doch ein zum Jura analoges Interesse auch für die savoyische Nachbarschaft zu entwickeln.

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Christian Favre: Une frontière entre la guerre et la paix. Les échanges au quotidien autour de l’arc jurassien (1937–1945). Neuchâtel, Editions Alphil, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 1, 2012, S. 177-178

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 1, 2012, S. 177-178

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